Leseprobe aus Kurzgeschichten:

 

Lasst uns einen Spaziergang machen

 

D E R   S C H R A N K

 

         Vor zwei Wochen war’s, mitten in der Nacht. Ich hatte mal  wieder ein richtiges Verlangen danach. Genau genommen ging das schon den ganzen Monat so.

Spätabends arbeitete ich noch an Manuskripten, kleine Artikel, die ich an Zeitschriften schickte. Meistens war ich bis drei Uhr nachts auf.. In der Nacht war es ruhig und ich konnte mich konzentrieren. Nur – den ganzen Monat fühlte ich mich so seltsam: leer, ausgelaugt. Ich hatte zu nichts mehr Lust; wollte mal etwas anderes tun – irgendwas, das mich aufheiterte, das Spaß machte.

Mir fiel der Roman ein, den mein Freund vor langer Zeit geschrieben hatte und von dem ich eine Kopie in meinem Schrank aufbewahrte. Gelesen hatte ich ihn ja schon mehrfach.

Nein, nicht dass mein Freund so humorvoll schrieb; der Roman war vielmehr so misslungen und von daher urkomisch, dass ich jedes Mal, wenn ich nur daran dachte, in ein Schmunzeln verfiel.

Das Problem war nur, der Roman lag im Schrank und den hatte ich bald schon zwei Jahre nicht mehr aufgemacht.

Im Schrank bewahrte ich allerlei auf. Alte Aufzeichnungen und Artikel, Referate aus meiner Zeit in der Abendschule, Berichte aus der Lehrzeit, sogar Schulhefte aus meinen ersten Schuljahren. Alles hatte ich dort sorgfältig geordnet und gestapelt. Den Schrank hielt ich immer verschlossen. So konnte nichts wegkommen. In meinem Arbeitszimmer erdrückte mich schon wieder eine Flut von Papier. Und davon musste ich doch hin und wieder etwas wegschmeißen.

Wie gesagt; den Schrank öffnen, irgendwas herausnehmen, wieder hineinlegen, kontrollieren ob alles seine Ordnung hatte, ja nichts wegkam – das war für mich ein wirkliches Problem. Manchmal hatte ich den Eindruck, dies Verhalten sei krankhaft.

 

Den ganzen Monat hatte ich also das Verlangen, den Roman herauszuholen, ihn wieder einmal zu lesen.

Einmal war ich schon nah dran.

Ich hatte den Schrankschlüssel bereits aus der Schublade des Schreibtisches genommen – und dann hörte ich es wieder; dieses merkwürdige Rascheln und das leise Klopfen.

Die Lust war mir vergangen!

Das waren womöglich wieder die Bentheims neben mir. Oder waren es die Kirchners von unten? Nicht nur am Tage waren die laut, jetzt machten sie auch schon in der Nacht Geräusche.,

Irgendwann müsste ich mal wieder Bescheid sagen. Auf die Dauer konnte es so jedenfalls nicht weitergehen. Ich lebte halt in einer Sozialwohnung.

Ich legte den Schlüssel zurück in die Schublade. Noch zwei Zigaretten. Ich horchte; kein Rascheln, kein Klopfen mehr. Ich ging ins Bett.

 

Vor zwei Wochen nun stand mein Entschluss fest, unwiderruflich. Ich musste den Roman herausholen, musste ihn lesen. Mein Zustand: absolute Leere. Nur dieser drängende Wunsch nach Aufheiterung.

 

In den vergangenen Tagen war das Rascheln und Klopfen deutlicher zu hören gewesen. Hatte ich mich schon daran gewöhnt? Ich nahm den Schlüssel wieder aus der Schublade, als hinter mir etwas zu Boden fiel.

Die Heftmaschine, die ich auf die Lehne des Schreibtischstuhls gestellt hatte,

Das hätte nicht passieren dürfen, nachts um halb drei! Ich stellte den Hefter wieder auf den Schreibtisch, ging zum Schrank, steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch, drehte ein wenig – und dann hörte ich es wieder: dieses Klopfen. Ganz nah. Ich zögerte einen Moment, drehte dann den Schlüssel weiter herum, so, dass ich das Aufspringen des Schlosses hörte. Und schon wieder dieses Klopfen. – Unmittelbar vor mir!

Nein, mein Entschluss stand fest!

Langsam zog ich die Tür auf, machte sie weit auf, sah in den Schrank hinein …

Das war nicht möglich …

Im Schrank saß ein fettes, urtümliches Wesen,

Gut dreißig Zentimeter groß und bald ebenso lang und breit.,

Fast wie eine große Schildkröte, nur ohne Panzer., - amphibienartig -! Vor dem Tier ein kleines zerfetztes Stück Papier. Und der ganze Schrank war leer. Alle Papiere waren verschwunden, - nur dieser Fetzen.

 

Das urtümliche Etwas streckte seinen langen Hals nach vorn, schob sich ein kleines Stück auf mich zu,

Vorsichtig begann ich die Tür zu schließen, bewegte sie langsam auf den Kopf des Urtieres zu und drückte sie mit einem Ruck an, als sie sich direkt am Kopf des urtümlichen Wesens befand. Dann drehte ich den Schlüssel herum.

Ich horchte …

Da! Zweimal klopfte es mit dem Kopf gegen die Tür.

Ich verschloss mein Arbeitszimmer, ging in den Wohnraum, schloss auch die Wohnzimmertür ab und legte mich auf die Schlafcouch.

 

Zwei Wochen lang habe ich mein Arbeitszimmer nicht mehr betreten.

Heute Abend bekam ich Besuch. Astrid und Ralf,

Ich bat Ralf, doch mal in mein Arbeitszimmer zu gehen und mir aus dem kleinen Schrank etwas zu holen. Er werde schon sehen was ich meine. Ralf sah mich fragend an, ging dann ohne ein Wort in mein Arbeitszimmer und schloss auf.

Ich stand auf dem Flur und horchte.

Ich hörte, wie er den Schrankschlüssel herumdrehte. Er sagte keinen Ton. Nach zwei Minuten kam er wieder heraus.

„Du bist mir einer“, sagte er. „Nichts als Scherze im Kopf.“

„Was war denn drin? Fragte Astrid.

„Nichts, absolut nichts. Direkt wie saubergeleckt. Nur ein Fitzelchen von einem Stück Papier.“

Ich begann zu lachen, lachte laut auf, merkte, wie sie mich seltsam ansahen, hörte, wie sich meine Stimme überschlug. Dann ging ich selber rüber,

Ralf hatte recht: bloß dieses Fitzelchen Papier. Der Schrank war wie saubergeleckt – kein Staubkörnchen.

Jetzt, wo Astrid und Ralf wieder nachhause gegangen sind und ich hier allein in meinem Arbeitszimmer sitze, hinter mir der Schrank, geöffnet, nur das Fitzelchen Papier …

In welchen Schränken mögen solche Wesen sitzen? Wachsen und wachsen … und auf einmal, wenn die Schränke nach Jahren geöffnet werden, sitzen diese Wesen da, schauen einen an …. Und irgendwann sind sie wieder weg. Einfach weg,

 

Ist alles verschwunden – Für immer?