Leseprobe aus dem Roman: „Wir tun nur unsere Pflicht“

          
Schon weit vor dem Vélodrome d'Hiver herrschte im 15. Arrondissement ein großes Verkehrschaos.         
Die Schlange der wartenden Lastwagen und Transportfahrzeuge der Gendarmerie war lang und es dauerte, ehe das Polizeiauto vor dem großen Gittertor zu stehen kam. Hier drängten sich gewöhnlich die radsportbegeisterten Anhänger der Pariser Fahrradclubs vor den Veranstaltungen, wenn sie von der Metrostation Grenelle kommend, die Spektakel verfolgen wollten.     
„Raus hier“, rief ein Gendarm, als sich die hintere Türe des Wagens geöffnet hatte. 
Das gleißende Licht blendete die Augen. 
Estha Abelsohn schlurfte mehr als sie ging, durch das Spalier von sechs Flics, bis zum Eingang der Halle.
Von der Juli-Sonne aufgeheizt, herrschten unter dem Glasdach unerträgliche Temperaturen und ein beißender Gestank von Exkrementen erfüllte die Metallkonstruktion.
Madame Abelsohn sah sich suchend um.
Auf den zwei Etagen der Tribünen drängten sich Männer, Frauen und Kinder ebenso, wie im Innenraum des Bahnrunds. Es mochten Tausende sein, wobei mehr Frauen als Männer die Halle füllten.            
Wie sollte sie hier mitten in diesen Menschenmassen ihren Amon finden? Sie wusste nicht einmal, ob er überhaupt hier war. Vielleicht hatte ihn der Arzt versteckt. War er doch Akademiker und wusste mehr als ein normaler Bürger.      
„So passen sie doch auf“, sagte ein Mann, als sie über dessen Füße stolperte. „Suchen sie sich einen Platz und setzen sich!“        
Sie entschuldigte sich und fragte, wo die Toiletten seien.          
„Wohl neu hier“, versuchte der Angesprochene ein mildes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern.  
„Sie waren doch auch einmal neu hier!“  
„Toiletten? Wo denken sie hin, gute Frau?“        
„Es wird doch schließlich ein Klo geben. Wo sonst verrichten die Menschen denn ihre Notdurft?“           
„Irgendwo! Meist auf der Treppe!“           
„Auf der Treppe?“, fragte Madame Abelsohn entsetzt.
„Vor allen Menschen?“       
„Müssen wir alle! Was meinen sie, warum es hier so stinkt?“   
„Privatsphäre gibt es hier nicht mehr und ich glaube, auch zukünftig nicht.“
„Wie meinen sie das?“        
„Na, glauben sie etwa, wir bleiben ewig hier? Die Deutschen werden uns irgendwohin verfrachten, wo sie uns los sind!“      
„Wir sind doch Franzosen!“           
„Wie ich an ihrem gelben Stern sehe, aber auch Juden. Juden sind nicht mehr erwünscht!“
„Sie haben doch gar keinen Stern“, stellte sie fest, nachdem sie den Mann gemustert hatte.
„Kommunisten auch! Wer weiß, wen sie sonst noch alles nicht mehr haben wollen. Wir sind Abschaum, hat mir der Gendarm gesagt, als er mich gestern aus meiner Wohnung holte.“         
„Sie sind schon seit gestern hier? Wie halten sie das nur so lange aus?“         
Werden sie auch ertragen müssen! Es sieht nicht danach aus, dass das hier bald ein Ende hat.“    
„Wo ist die Treppe, wo man…“ Sie unterbrach sich.
„Da hinten. Sehen sie wo die Kurve anfängt? Da geht es rechts hoch. Vielleicht finden sie ganz oben noch eine Stelle, wo sie nicht auf einen anderen Haufen scheißen müssen. Haben sie denn etwas zum Abputzen?“  
Sie suchte in der großen Tasche, die sie mitnehmen durfte. Zwischen dem Kleid zum Wechseln fand sie einige Taschentücher.          
„Die sind noch von meiner Mutter“, sagte sie zu dem Mann, wobei sie auf die Stickerei zeigte. „Sie hat zehn Stück davon selbst gemacht.“           
Jetzt lachte er tatsächlich und sagte: „Damit kommen sie ja dann ein paar Tage hin!“          
„Was sind sie nur für ein Mensch? Machen sich darüber lustig!“         
Sie wollte ihre Tasche aufnehmen und den Ort aufsuchen, den er ihr genannt hatte, als er sie zurückhielt. „Die können sie ruhig hierlassen. Ich achte solange darauf.“      
„Das könnte ihnen wohl so passen“, entgegnete Estha Abelsohn. „Wenn ich zurückkomme sind sie und meine Tasche gleich mit weg!“      
„Ich bin ein Ehrenmann, Madame!“          
„Und ein Kommunist! Denen darf man schon gar nicht trauen“, sagte sie bestimmt, nahm die Tasche und machte sich in Richtung Kurve auf den Weg.          
Noch bevor sie an der Treppe ankam, nahm sie einen markdurchdringenden Schrei wahr.
„Hilfe, Hilfe, Sanitäter! So helfen sie ihr doch, sie verblutet!“
Estha Mandelsohn sah, wie sich eine junge Frau über eine andere beugte, unter der sich eine große Blutlache immer weiter ausbreitete.          
„Ein Arzt! Ist denn hier kein Arzt?“ schrie sie. „Wir brauchen einen Arzt oder Sanitäter! Sie stirbt!“         
Zahlreiche Menschen umringten die beiden Frauen und sahen der Hilflosigkeit zu.
Ein Mann neben ihr, welcher sich in der Runde umsah, sagte:“ Ist vielleicht besser für sie.“           
„Nummer 22“, vernahm Estha von hinten.          

Ein älterer Mann im Anzug zwängte sich durch die Zuschauer.          
„Lassen sie mich doch bitte durch, ich bin Arzt!“
Er musste sich förmlich durch die immer größer gewordene Menge kämpfen, bevor er die Verwundete erreichte. Sie hatte sich die Pulsadern gleich mehrfach an beiden Armen aufgeschnitten.    
Der Doktor zog einen Taschenspiegel an deren Mund, und schüttelte resignierend den Kopf.       
„Da kann ich auch nichts mehr machen“, sagte er leise.
Um sicher zu gehen, knöpfte er die blutgetränkte Bluse der Toten auf und legte sein Ohr an ihre Brust.
„Exitus!“

Estha Abelsohn löste sich aus der Gruppe und erreichte die Treppe, die zwar menschenleer, dafür mit Kothaufen übersät war. Urin rann die Stufen herunter. 
Sie hielt sich die Nase zu, als sie weiter nach oben ging. Dabei versuchte sie den Haufen auszuweichen, was ihr nicht immer gelang.           
Mit verschmierten Schuhen erreichte sie das Ende der Treppe, wo der Gestank noch größer war, als unten. Auch hier gab es kaum freie Stellen und andere Menschen huschten laufend herum.          
Sie konnte es allerdings nicht mehr aushalten, sah sich um und ging, ihre Tasche mit den Armen vor den Bauch geklemmt, in die Hocke.                     
Obwohl der Drang groß war, brauchte es eine Weile, ehe sie ihre Notdurft verrichten konnte.       

Als sie nach ihrem Mann suchend, die Reihen des obersten Rangs entlanglief, glaubte sie, ihn inmitten einer Kindergruppe sitzen zu sehen. Er wandte ihr den Rücken zu, doch erkannte sie Amon an seinem weißen Haarkranz.  
Freudestrahlen lief sie zu ihm und umarmte ihn von hinten.    
„Amon“, flüsterte sie. „Endlich habe ich dich gefunden! Ich glaubte schon…“          
Der Mann drehte sich verstört um.
Estha erschrak. Sie hatte den falschen Mann umarmt.
„Entschuldigen sie bitte. Ich glaubte meinen Mann wiedergefunden zu haben“, sagte sie leise und Tränen liefen über ihr Gesicht.       
Noch Stunden verbrachte sie damit, die Ränge abzulaufen, ehe sie resigniert aufgab und einen halbwegs freien Platz fand, wo sie sich von der Mühe ausruhte.

Trotz der Aufregung fand sie ein wenig Schlaf.
Plötzlich wurde sie von einer Frau angesprochen.
„Haben sie vielleicht meine kleine Tochter gesehen? Ein Mädchen von fünf Jahren. Sie heißt Chavah, das bedeutet ‚Lebendige Freude‘. Sie ist nicht mit mir transportiert worden. Man sagte mir, dass ich sie bald wiedersehen würde.“ 
Die Frau zeigte ihr eine Fotographie, auf dem ein schwarzhaariges Mädchen in rotem Rock und gelbem Pullover.        
Frau Abelsohn schüttelte den Kopf.          
„Ich suche auch meinen Mann und kann ihn nicht finden. Er hat schütteres Haar. Aber davon ist nicht mehr, als ein Haarkranz geblieben. Hier sind so viele Menschen eingepfercht. Es müsste Zufall sein, wenn wir da unsere Liebsten wiederfinden! Vielleicht hat Jahwe ein Erbarmen mit uns?““

Am Abend brachte das Rote Kreuz Essen, was allerdings nur für wenige Inhaftierte reichte. Vor allem für jene, die unten waren. Auch das Trinkwasser war rationiert. Immerhin teilten die Menschen untereinander auf, so dass jedem eine Tasse voll blieb.  

Tage vergingen, ehe von den 13.000 ein Teil hinausgeführt wurden.   
Am fünften Tag war auch für Estha Abelsohn die Zeit gekommen, das Vélodrome d'Hiver zu verlassen.
Beim Hinausgehen sah sie tote Frauen liegen.     
„Die haben Glück“, hörte sie jemanden hinter sich sagen. „Denen bleibt der Rest erspart!“ 
Estha wusste nicht, wovon die Person sprach.    
Mit einigen anderen Hundert musste sie einen der zahlreich vor dem Tor stehenden Lastwagen der Wehrmacht besteigen. Die Frau, welche ihr Töchterlein suchte, half ihr auf die Ladefläche.
Französische Polizisten trieben die Leute unter Zuhilfenahme von Schlagstöcken an. Deutsche Soldaten waren nirgendwo zu sehen.           

Am Bahnhof Austerlitz ging es in den Zug, dessen Türen verschlossen wurden, nachdem die Wagen mehr als gefüllt waren. Ein wenig frische Luft hätte gutgetan, doch ließen sich die Fenster nicht öffnen. Zumindest die Toiletten waren zugänglich, jedoch bald schon war der Abfluss verstopft, so dass es wie im Radstadion aussah und stank.  
Zum Glück dauerte die Fahrt ins etwa 20 Kilometer von Paris entfernt liegende Drancy nicht lange.        
Die französischen Gendarmen an der Haltestation waren besonders brutal! Sie trennten sofort nach Ankunft des Transports kleine Kinder von ihren Müttern, was natürlich großes Wehgeschrei verursachte.  
Estha musste sich wegdrehen, um das Leid der Mütter nicht mit ansehen zu müssen.         
Allen Menschen wurde ihr Geld und andere Wertsachen, wie zum Beispiel Schmuck und Uhren, abgenommen.           
Das Lager selbst, in welchem sie ihrer Freiheit erneut beraubt wurde, war ein viergeschossiger, hufeisenförmiger Gebäudekomplex, welcher um einen langen Innenhof gebaut worden war. Das U-förmige Camp war mit Stacheldraht und an allen vier Ecken von Wachtürmen umgeben.
 
Die einzelnen, nummerierten Treppenabsätze führten jeweils in einen einzelnen, großen Raum, welcher mit hölzernen Stockbetten und einem Waschbecken ausgestattet war. Dreißig bis vierzig Menschen waren hier zusammengepfercht. Die Räumlichkeiten im Erdgeschoss waren den allgemeinen Funktionen vorbehalten. Krankenstation, Friseur, Lagerladen, Schneiderei, Kantine, Vorratsraum für Gemüse und die Schälküche.“       
Die Gendarmen prügelten bei geringsten Anlässen auf die Gefangenen ein und ließen sie hungern, so dass nicht wenige an Unterernährung starben.   

Eines Abends, Estha Abelsohn saß hungrig im Innenhof, als sich eine Frau zu ihr gesellte. Sie hatte unter ihrem Kleid ein Stück Brot versteckt, wovon sie ein Stück abbrach und es ihr gab.     
Dankbar sah Estha die Fremde an. Dann sagte sie: „Wissen sie wem sie ähneln?“    
Sie erwartete keine Antwort und sprach daher weiter: „Der berühmten Chansonsängerin
Fania Fénelon.“
Die Frau lachte. „Ich bin Fania Fénelon!“ 

„Sie darf man doch nicht einfach hier einsperren“, erzürnte sich Estha. „Sie sind doch berühmt und ein französisches Idol!“ 
„Ich weiß nicht genau, aber mein
Vater war Jude. Vielleicht wurde ich auch von der SS verhaftet, weil man mich der Unterstützung kommunistischer Aktionen bezichtigt.“
„Stimmt das denn?“
„Ja, ich habe den Widerstand unterstützt, worauf ich auch ein wenig stolz bin“, erwiderte sie.      

Estha Abelsohn blieb fast einen Monat im Lager, bevor man sie völlig abgemagert und entkräftet zum nahegelegenen Bahnhof
Bourget-Drancy verfrachtete.  
Nackt wurde sie in einen Viehwaggon getrieben.           
Viele Gefangene konnten bei Bombenangriffen und Attentaten auf die Bahnanlagen fliehen. So, wie vor einigen Tagen bei Vaires-sur-Marne. Dafür wurden 40 Gefangene als Vergeltungsmaßnahme erschossen.
Einer der Verantwortlichen kam auf die perfide Idee,
Juden nur noch nackt zu transportieren, um sie bei Flucht besser erkennen zu können.     

Am Morgen des 16. August 1942 setzte sich der Transport mit 4450 Internierten, um fünfuhrdreißig an der Bahnstation ‚Bobigny‘ in Richtung Polen in Bewegun