Leseprobe aus dem Märchenbuch:

 

Geschichten aus dem Zauberland

 

 Das Fischerboot

 

Wenn es am Hazargölü Frühling wird, verwandelt sich die mitteltürkische Landschaft in einen bunten Teppich. Allerorten zirpt und fiept es. Auf den  Bergen liegt hoch oben noch Schnee. Scheint die Sonne darauf, so funkeln die kleinen Eiskristalle und blenden das Auge. Kein Wind stört den Schlaf des Sees, nur die größer werdenden Ringe, welche die Fische hinterlassen, wenn sie mit ihren Mäulern oder Rücken die Wasseroberfläche von unten berühren, lassen erkennen, dass auch hier erwachtes Leben vorhanden ist.

 

In dieser Zeit, noch bevor der Muezzin zum Frühgebet vom Minarett ruft, steigt Hassan in sein kleines Boot und rudert auf das silbrig daliegende Wasser. Abends zuvor hatte er seine Netze ausgelegt, die er jetzt wieder einholen will. 

Seit etlichen Jahren verrichtete er in acht Monaten des Jahres diese Arbeit. In den restlichen vier Monaten ist der Gölü weitgehend zugefroren. Dann geht Hassan mit einer Hacke auf das Eis, schlägt Löcher rein, in die er Fischköder hängt.

Seine Beute ist meist nicht groß, doch reicht der Erlös, um seine Familie zu ernähren. Hassan war bescheiden! Das Haus, welches er mit seiner Frau Gülül und den beiden Kindern bewohnte, reicht seinen Ansprüchen.

 

Jetzt im Frühling fing er mehr Fische als die Dorfbewohner verbrauchen konnten. Aus diesem Grunde musste er zweimal wöchentlich auf den Markt in die Stadt, um seine frische Ware zu verkaufen.

So war es auch an diesem Tag!

Anfangs ging das Geschäft nicht sonderlich gut, doch kurz vor dem Mittagsgebet, wozu er jeweils in die nahe Moschee ging, kam ein gutgekleideter Bey an seinen provisorischen Stand und kaufte alle seine Fische für ein Fest auf.

Befriedigt eilte Hassan in das Gotteshaus, um Allah zu danken, der ihm schließlich diesen Herrn vorbeigeschickt hatte.

Früher als gewohnt, glaubte er an diesem Tag nach Haus zurückkehren zu können. Doch das Kismet entschied anders!

Als Hassan aus der Moschee trat, kam ihm sein erstgeborener Sohn Mohammed entgegen, der ihn schon auf dem ganzen Markt vergeblich gesucht hatte.

Hassans fragenden Blick wich er scheu aus und übergab im wortlos ein Telegramm. Dieses sei kurz nach seinem Aufbruch Zuhause eingetroffen, gab der Junge stotternd und halb weinend, auf Hassans Fragen, Auskunft. Das Telegramm kam von Hassans Tante. Sie teilte ihm mit, dass sein Vater am Vortag in Allahs Reich eingegangen sei.

Tränen füllten beim Lesen seine dunklen Augen! Wie er, so hieß auch sein Vater Hassan. Hassanbaba war zudem ebenso Fischer. Beide hatten viele Gemeinsamkeiten.

Gestritten? Nein, daran konnte er sich nicht erinnern! Nur, dass er damals wegen Gülül vom Vangölü fortgezogen war, um in ihrer Nähe sein zu können, verzieh Hassanbaba ihm nie. Aber das war schon so lange her. Damals baute er sich das kleine Haus und erstand sein erstes eigenes Fischerboot. Dann heiratete er Gülül und glaubte mit ihr das Glück eingefangen zu haben. Seinem Vater verdankte er die Kunst des Fischens und Netzknüpfens.

 

Zwei Jahre waren seit dem letzten Besuch am Vansee bei seinem Vater vergangen.

– Schuldgefühle kamen in ihm auf. –

Nach dem Tod der Mutter, und besonders nach seiner Hochzeit, waren seine Besuche immer seltener geworden. Nun musste er ein letztes mal die Reise antreten. Das Geld, welches er an diesem Tage verdient hatte, reichte gerade aus, um die Fahrt sofort antreten zu können. Er schickte seinen Sohn heim und bestieg den Bus nach Van.

Die ganze Nacht war er unterwegs gewesen, als er in den frühen Morgenstunden sein Vaterhaus erreichte. Ihm fielen vor Müdigkeit fast die Augen zu, denn während der Fahrt hatte er keinen Schlaf finden können. Immer wieder kreisten seine Gedanken um den nun toten Vater und um seine Kindheit im Elternhaus.

Nach der Grablegung beweinte er drei Tage und Nächte den Toten. Mit Hassanbaba war auch ein Stück seines Lebens mit in das Grab gelegt worden.

Am vierten Tag ordnete Hassan die Hinterlassenschaft, die, wie zu erwarten, nur gering war. Auch sein Vater war nicht zu Reichtümern gekommen.

Der ganze Stolz des Alten war dessen  Fischerboot gewesen, das er sich kurz nach Hassans Fortgang hatte bauen lassen.

Es war ein schönes und solides Boot, an welchem Hassan großen Gefallen fand. Ihm wurde bewusst, dass sein eigenes Boot schon alt war und kaum den nächsten Winter überstehen würde. Das Boot des Vaters konnte er somit gut gebrauchen. Es gab da nur die Schwierigkeit, das Schiffchen zum Hazargölü zu bringen!

Ein eigenes Fahrzeug besaß Hassan nicht, und die wenigen Leute die er kannte, konnten ihm aus gleichem Grund nicht helfen.

Drei Tage überlegte er angestrengt, ehe er eine Lösung gefunden zu haben schien. Zwei weitere Tage benötigte er, um seine Idee in die Tat umzusetzen.

Am Ufer des Vangölü hörte man es während dieser Zeit hämmern und sägen. Schließlich wurde es wieder ruhig; Hassan hatte seine Arbeit beendet. Vaters Boot stand auf einem umgebauten Eselskarren!

Damit war jedoch erst die erste Hälfte des Problems bewältigt. Schließlich musste dieser Karren auch gezogen werden. Menschenkräfte hätten dafür nicht genügt. Hassan fragte bei mehreren Busunternehmern, ob diese nicht eine Anhängerfracht zum Hazarsee befördern könnten. Anfangs freuten sich die Unternehmer auf das gute Zusatzgeschäft. Doch als er erklären musste, worum es sich bei dieser Fracht handelte, erhielt er nur Absagen. Einer von ihnen bangte um seinen neuen Motor, ein anderer, der klein und dickbäuchig war und sich andauernd den Schweiß vom Gesicht tupfte, befürchtete, dass seine Anhängerkupplung der Belastung nicht standhalten würde.

Mit List, so dachte Hassan, muss ich wohl an die Sache rangehen. Noch einmal saß er vor dem Boot am See und dachte angestrengt nach.

Dann kam ihm die, so glaubte er, rettende Idee!

 

Vor der Zitadelle mietete er sich eine Kutsche, die eigentlich für Ausflugsfahrten zu einem günstigen Tarif zu haben war, und fuhr mit dieser die wenigen Kilometer zum See. Hier band er den Eselskarren mit starken Seilen und Ketten an die Karosse. Unter großer Anstrengung zog das Pferd an und nachdem auch Hassan kräftig zu schieben begonnen hatte, setzte sich das Gefährt tatsächlich in Bewegung. Auf der zementierten Zufahrtsstraße ging es dann ohne Hassans Hilfe und zudem auch etwas schneller.

Sein Ziel war zunächst die Ausfallstraße nach Bingöl, wozu er allerdings durch die Innenstadt Vans fahren musste. Merkwürdig sah es schon aus und alle Leute drehten die Köpfe, als der Prachtwagen mit den roten Lederpolstern und dem schwarzlackierten Holz mit dem Boot im Schlepptau durch die Straßen fuhr. Umsichtigerweise mied er den Weg an der Zitadelle vorbei, wo sicherlich der Kutschenvermieter bereits auf seine Rückkehr wartete.

Stattdessen quälte er sich durch die engen Nebengassen zum Ortsausgang. Fast schon im Trab ging es jetzt am See entlang, bis ein nicht einmal allzu hoher Berg der Fahrt ein Ende bereitete. Unter keinen Umständen ließ sich das Pferdchen dazu bewegen, die Steigung zu nehmen.